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Autor*innen: Weiß, Manfred
Titel: Einführung in das Thema: Demographischer Wandel, Migration und Bildung. Vortrag auf dem 13. Wissenschaftlichen Kolloquium beim Statistischen Bundesamt am 18.11.2004 in Wiesbaden
Erscheinungsvermerk: Wiesbaden: Statist. Bundesamt, 2004
URL: http://kolloq.destatis.de/2004/weiss.pdf
Dokumenttyp: 1. Monographien (Autorenschaft); Monographie (keine besondere Kategorie)
Sprache: Deutsch
Schlagwörter: Demographie; Bildungssystem; Bildungsangebot; Chancengleichheit; Region; Schülerzahl; Bildungsverhalten; Steuerung; Finanzen; Deutschland
Abstract: In der wissenschaftlichen und politischen Diskussion gilt das Hauptaugenmerk den Auswirkungen der demographischen Entwicklung auf die sozialen Sicherungssysteme und den Arbeitsmarkt. Dagegen fehlt bislang eine systematische Befassung mit den Konsequenzen für den Bildungsbereich. Unter den Bedingungen einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung werden dem Bildungssystem erhebliche - bereichsspezifisch differierende - Anpassungsleistungen abverlangt. Dabei lassen sich vier zentrale Problemfelder für eine differenzierte Betrachtung benennen: (1) Die Wahrnehmung des Infrastrukturauftrags im Bildungsbereich wird sich zunehmend schwieriger gestalten. Betroffen sind davon vor allem Regionen (insbesondere in den neuen Ländern), die aufgrund eines starken Geburtenrückgangs - z.T. noch verstärkt durch Wanderungsverluste - die kritische Grenze der relevanten "Bildungsbevölkerung" unterschritten haben bzw. unterschreiten werden. Die bestehenden Disparitäten im regionalen Bildungsangebot und die Ungleichheit der Zugangschancen dürften sich dadurch weiter vergrößern. Eine Verschlechterung der regionalen Angebotsbedingungen wird durch strukturelle und organisatorische Anpassungsmaßnahmen oftmals nicht zu vermeiden sein, was über den Bildungsbereich hinaus gehende negative Konsequenzen für das Entwicklungspotenzial einer Region haben kann. (2) Der Rückgang der bildungsrelevanten Jahrgänge wird in den einzelnen Bildungsbereichen phasenverschoben wirksam und sich wegen der schwieriger zu prognostizierenden Entwicklung des Bildungsverhaltens nur bedingt planerisch antizipieren lassen. Der demographische Effekt kann durch die Entwicklung des Bildungsverhaltens verstärkt (z.B. bei den weniger attraktiven Schulformen/Bildungsgängen), abgemildert (z.B. aufgrund der "Sogwirkung" freier Kapazitäten bei den attraktiveren Schulformen/Bildungsgängen) oder überkompensiert werden (evtl. Hochschulbereich, Weiterbildung). Die Existenz konkurrierender Bildungsangebote sowie schwieriger abzuschätzende Einflüsse der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung und veränderter Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt, im Beschäftigungssystem und der Bildungsteilnahme (z.B. die Einführung von Studiengebühren) auf das Bildungsverhalten werden die Prognoseunsicherheit - und damit die Planungsunsicherheit - insbesondere in den nicht obligatorischen Bildungsbereichen erhöhen. Die in Expansionsphasen mögliche (und in der Vergangenheit praktizierte) angebotsseitige Steuerung der Bildungsnachfrageverliert in Kontraktionsphasen zunehmend an Bedeutung. (3) Die hinlänglich thematisierten problematischen Folgen einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung für Arbeitsmarkt und Beschäftigungssystem werden Rückwirkungen auf den Bildungsbereich haben, auf die Strukturen ebenso wie auf die zu erbringenden Qualifizierungsleistungen. Mit dem Übergang zu den geburtenschwächeren Jahrgängen ist eine Erhöhung des Durchschnittsalters des Erwerbspersonenpotenzials verbunden. Der notwendige Innovationstransfer kannimmer weniger durch die nachrückenden Berufsanfänger geleistet werden. Im Blick darauf und aufgrund des für Deutschland empirisch nachweisbaren starken Qualifikationseffekts auf die Arbeitsproduktivität werden vom Bildungsbereich in Zukunft in erheblichem Umfang zusätzliche Qualifizierungsleistungen erbracht werden müssen. Die notwendige kontinuierliche "Humankapitalanpassung" wird dem Weiterbildungsbereich eine besondere Verantwortung zuweisen. Aber auch vom Schulbereich wird angesichts der evidenten Kompetenzdefizite bei Jugendlichen (insbesondere mit Migrationshintergrund) und der Forderung nach einer besseren Ausschöpfung von "Begabungsreserven" eine höhere Qualifizierungsleistung gefordert. (4) Vor dem Hintergrund der persistenten staatlichen Finanzkrise und des wachsenden Mittelbedarf anderer öffentlicher Aufgabenbereiche wird die rückläufige demographische Entwicklung im Bildungsbereich mit der Erwartung substanzieller Budgetentlastungen verknüpft. Diese Erwartung sieht sich nicht nur mit massivem politischen Widerstand der "Bildungsseite" konfrontiert, sondern auch mit dem Problem unvermeidbarer Mehrkosten bei der Erfüllung des Infrastrukturauftrags im Bildungsbereich (z.B. aufgrund von "diseconomies of scale") und relativ inflexibler Ausgabenstrukturen, die zum Phänomen der Kostenremanenz führen. Die zumindest kurz- und mittelfristig stark eingeschränkte Ausgabenflexibilität erweist sich aus der Sicht des Bildungswesens als ambivalent: Einerseits stellt sie einen wirksamen Puffer gegen substanzielle Budgetkürzungen dar; andererseits werden dadurch im Gefolge der demographischen Entwicklung notwendige intrasektorale Mittelumschichtungen im Bildungsbereich erheblich erschwert.
DIPF-Abteilung: Steuerung und Finanzierung des Bildungswesens