Governance weiterdenken – ein DIPF-Impuls

Gouvernence
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30.07.2025 Impuls
Der ko-konstruktive Ansatz: So kann sich die Zusammenarbeit von Bildungspolitik, Bildungsverwaltung und Bildungsforschung grundlegend verbessern. Ein Impuls von Dr. Martina Diedrich.

Die große Herausforderung

Man muss nicht besonders genau hinschauen, um zu erkennen, dass unsere Gesellschaft mit multiplen Krisen konfrontiert ist. Der Bildungsbereich bildet hier keine Ausnahme, im Gegenteil: Er ist ganz besonders betroffen. Es gibt große ungelöste Problemfelder, die teilweise schon über Jahrzehnte bekannt, teilweise aber auch neu sind oder sich erst zunehmend ins Bewusstsein drängen: Mangelnde Bildungsgerechtigkeit, eine grundlegende Leistungsschwäche des gesamten Systems, der Umgang mit Heterogenität und Inklusion, die Digitalisierung oder der demografische Wandel in Verbindung mit einem zunehmenden Fachkräftemangel sind nur einige Beispiele. Zur Bewältigung dieser zahlreichen Herausforderungen hat sich in den vergangenen 25 Jahren eine neue Form der Zusammenarbeit zwischen Bildungsforschung, Bildungspolitik, Bildungsverwaltung und in Teilen auch der Bildungspraxis etabliert. Sie läuft unter dem Stichwort „Evidenzorientierung“, und die grundlegende Idee ist, dass Wissenschaft Erkenntnisse beisteuert, die die Entscheidungsträger*innen informieren und bestimmte Handlungsoptionen als erfolgversprechender ausweisen.

Dabei wurde und wird häufig übersehen, dass in den verschiedenen Systemen unterschiedliche Handlungslogiken und Kulturen vorherrschen. Daraus ergeben sich zahlreiche Spannungsfelder, die eine erfolgreiche Zusammenarbeit erschweren. In der Folge entstanden häufig Frustration und Enttäuschung auf allen Seiten, denn die wechselseitigen Erwartungen wurden als nicht erfüllt oder nicht erfüllbar erlebt. Deshalb sollte die Frage noch einmal neu gestellt werden: Wie kann eine gewinnbringende Zusammenarbeit der verschiedenen Akteur*innen zum möglichst großen Nutzen des gesamten Bildungssystems gelingen?

Ko-Konstruktive Zusammenarbeit am Beispiel des Startchancen-Programms

Diese Frage soll am Beispiel des Startchancen-Programms erörtert werden, das als umfangreichste Bildungsinitiative der bundesdeutschen Geschichte gilt. Ziel ist es, das Bildungssystem insgesamt zu verbessern, indem der enge Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg reduziert und dadurch Bildungsungleichheit abgebaut wird. Die Maßnahmen sollen zunächst 4.000 Schulen in sozial besonders herausfordernden Lagen zugutekommen – letztlich aber positiv auf das gesamte System ausstrahlen. Um das Programm wissenschaftlich zu fundieren, hat ein bundesweiter Forschungsverbund unter Federführung des DIPF den Auftrag erhalten, in engem Austausch mit den Ländern passende Angebote zu entwickeln.

Der Verbund erhebt den Anspruch, diese Angebotsentwicklung von Anfang an „ko-konstruktiv“ zu gestalten. Die Grundannahme ist, dass es nicht genügt, wissenschaftliche Erkenntnisse einseitig zu erzeugen, sondern dass dieses Wissen in kooperativen Prozessen zwischen den beteiligten Akteur*innen aus Forschung, Verwaltung und Praxis entstehen muss. Sie sollen gemeinsam Probleme definieren, Fragestellungen präzisieren, Konzepte entwickeln, sie erproben und bewerten, um so zu tragfähigen Lösungen zu gelangen. Erst diese Aushandlungsprozesse versetzen uns in die Lage, die verschiedenen Perspektiven, Verantwortlichkeiten und Handlungslogiken nachhaltig zu berücksichtigen.

Damit eine solche Form der wissenschaftlichen Begleitung Wirklichkeit wird, braucht es Personen, die eine besondere Vermittlungskompetenz haben. Sie müssen letztlich „Grenzgänger zwischen den Welten“ sein, die die über eine gewisse „Mehrsprachigkeit“ verfügen. Sie sind es, die eine wirklich gleichberechtigte Zusammenarbeit ermöglichen. Dafür braucht es spezifische personale Kompetenzen. Vor allem müssen die Beteiligten unterschiedliche Perspektiven einnehmen und Mehrdeutigkeiten aushalten können.

In der wissenschaftlichen Begleitung des Startchancen-Programms kommt dieser ko-konstruktive Anspruch nicht nur bei der Entwicklung der Angebote zum Tragen, sondern auch in der Ausrichtung zweier Struktureinheiten: dem Governance-Zentrum und den Transfer- und Transformations-Hubs. Das Governance-Zentrum arbeitet mit den Steuerungsakteur*innen der Länder an einer kohärenten Umsetzung des Programms. Alle Ebenen und Perspektiven sollen systematisch miteinbezogen werden. Die Hubs unterstützen die Länder dabei, die Angebote aus dem Verbund möglichst passgenau und anschlussfähig in die bereits vorhandenen Strukturen und Prozesse der schulischen Qualitätsentwicklung zu integrieren.

Fazit: Es braucht eine Veränderung des Mindsets

Bei diesem Ansatz der wissenschaftlichen Begleitung sind ein enger Austausch, die Anerkennung der bereits bestehenden Ansätze, die Wertschätzung der länderspezifischen Besonderheiten und die Betonung des gemeinsamen Lernens eine Grundvoraussetzung. Simpler formuliert: Es geht nicht um „Ich weiß etwas, was du nicht weißt‘, sondern um „Wir wissen beide nicht alles – lass es uns gemeinsam herausfinden‘“. Ziel muss sein, Diskurs-, Denk- und Lernräume zu öffnen, in denen sich alle Seiten möglichst unvoreingenommen und frei von Ängsten und Hierarchien begegnen. So können sie miteinander neue Erkenntnisse gewinnen, Deutungen aushandeln und passgenaue Lösungen entwickeln. Auf diese Weise kann gewinnbringende Zusammenarbeit entstehen. Dr. Martina Diedrich

Martina Diedrich ist Leiterin des Governance-Zentrums im CHANCEN-Verbund, dem Forschungsverbund zur wissenschaftlichen Begleitung des Startchancen-Programms. Zuvor hat die promovierte Psychologin viele Jahre am Hamburger Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung (IfBQ) gewirkt und war von 2018 bis 2024 dessen Direktorin.

Über den „Impuls“ des DIPF: Mit diesem Format wenden sich führende Wissenschaftler*innen unseres Instituts an Entscheidungsträger*innen in Politik, Verwaltung und Praxis in der Bildung und an die breite bildungsinteressierte Öffentlichkeit. Die DIPF-Expert*innen bieten fundierte Anregungen und neue Perspektiven zu Herausforderungen im Bildungssystem. Mit diesen Denkanstößen will das Institut Debatten unterstützen oder anregen.