Mit Hitchcock und Minecraft der Aufmerksamkeit auf der Spur

Messung von Aufmerksamkeit beim Schauen von Lern-Videos
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09.09.2025 Interview
Um Schulstoff besser zu verstehen, greifen Schüler*innen gerne auf Lern- und Erklärvideos auf Plattformen wie YouTube zurück. Auch Lehrkräfte setzen sie von Zeit zu Zeit im Unterricht ein. Eine wichtige Rolle für den Lernerfolg solcher Videos spielt die Aufmerksamkeit der Zuschauenden. Warum das so ist, wie DIPF-Wissenschaftler*innen mehr darüber herausfinden wollen, wie aufmerksam solche Videos verfolgt werden, und wie ein Regie-Altmeister dabei helfen konnte, erklärt Bildungsforscher Dr. Sebastian Korinth.

Warum ist denn die Aufmerksamkeit so wichtig für den Erfolg von Lernvideos?

Um diese Frage zu beantworten, müssten wir eigentlich erst klären, was mit Aufmerksamkeit gemeint ist. Kognitionsforscher*innen arbeiten hier mit komplizierten Modellen, die nicht unbedingt dem entsprechen, was sich Laien darunter vorstellen. Wenn wir aber Aufmerksamkeit als das nehmen, was viele Menschen intuitiv darunter verstehen, dann geht es darum, ob Schüler*innen beim Betrachten eines Lernvideos „bei der Sache sind“ – und das vor allem durchgängig. 

Wir alle kennen das Phänomen, dass wir beim Lesen, in Meetings, bei Vorträgen und Ähnlichem zwar physisch anwesend, mit den Gedanken aber ganz woanders sind. Dieses Abschweifen – also Unaufmerksamkeit – kann viele Gründe haben. Bei Lernvideos kann es daran liegen, dass die Inhalte zu langweilig oder auf unverständliche Weise präsentiert werden. Aus der Perspektive der Betrachtenden kann es darin begründet liegen, dass sie die Inhalte schon kennen oder diese als zu schwierig empfinden. Manchmal sind wir auch einfach nur zu müde, um unsere Aufmerksamkeit aktiv auf einen Lerninhalt zu lenken. Aber egal wie: Ohne Aufmerksamkeit gibt es keinen Lernzuwachs, weil die Lerninhalte schlicht nicht aufgenommen werden.

In einem Fachartikel Ihrer Kollegin Natalie John, an dem Sie als Ko-Autor mitgewirkt haben, schlagen Sie nun einen neuen Ansatz vor, um die Aufmerksamkeit beim Betrachten von Filmen zu messen. Erläutern Sie uns doch mal kurz, wie genau Sie vorgegangen sind.

Zunächst hat Nathalie John ein etwa 15-minütiges Lernvideo erstellt, in dem – eingebettet in die virtuelle Umgebung des Computerspiels „Minecraft“ – die Programmiersprache Python vorgestellt wird. In unserer Untersuchung haben dann mehr als 100 Studierende dieses Video angeschaut. Währenddessen wurden ihre Augenbewegungen mithilfe eines Eye-Trackers aufgezeichnet. Für jeden einzelnen Videoframe des Lernvideos (also 25-mal pro Sekunde) haben wir dann die Blickpositionen – auf Englisch Gaze – aller Versuchspersonen in Gruppen eingeteilt. Das funktioniert automatisch mit sogenannten Cluster-Detektions-Algorithmen. Sehr oft haben wir nur ein einziges Cluster gefunden, wenn alle Versuchspersonen auf dieselbe, offenbar besonders informative Region des Bildschirms geschaut haben. Manchmal verteilten sich die Cluster aber auch auf zwei oder mehr Regionen, die jede für sich bedeutsame Informationen enthielten. Wir haben dann Personen als unaufmerksam eingestuft, deren Blick sich sehr häufig keinem dieser Cluster zuordnen ließ, und das neue Maß für Aufmerksamkeit „Gaze Cluster Membership“, kurz GCM, genannt. 

Und haben Sie diese Methode auch in anderen Zusammenhängen erprobt?

Ja! Zuerst haben wir unser Maß mit einem bereits gut untersuchten Video getestet. Für diesen Ausschnitt aus einem Film von Alfred Hitchcock wurde schon in anderen Studien gezeigt, welche Sequenzen besonders spannend, das heißt, aufmerksamkeitsfördernd sind. Und wir konnten zeigen, dass auch unser GCM-Maß bei den spannenden Stellen des Films anstieg. Darüber hinaus konnte GCM in anderen Film-Sequenzen, bei denen bisherige Messmethoden weniger Aufmerksamkeit angezeigt hatten, besser differenzieren – zum Beispiel bei Diskussionen zwischen mehreren Protagonist*innen. 

Am wichtigsten fanden wir aber den Befund, dass Personen mit den höchsten GCM-Werten, die wir also als besonders aufmerksam eingestuft haben, auch den höchsten Zuwachs in Wissenstests zeigten. Wir können über unseren Ansatz demnach auch Aussagen zu den Hintergründen des Lernerfolgs vornehmen.

Könnten Sie den Fortschritt gegenüber anderen Mess-Ansätzen noch ein wenig genauer darlegen?

Bisherige Ansätze setzen häufig auf Elektroenzephalografie (EEG), um die Aufmerksamkeit beim Betrachten von Lernvideos zu messen. Dabei wird die elektrische Gehirnaktivität über Elektroden erfasst, die auf der Kopfhaut einer Person befestigt werden. Ein etabliertes Maß, das hier zum Einsatz kommt, ist die sogenannte „Inter Subject Correlation“ (ISC). Vereinfacht gesagt bedeutet ein hoher ISC-Wert, dass die Gehirnaktivität von vielen Versuchspersonen in diesem Augenblick sehr ähnlich ist, weil sie alle vergleichbare Informationen verarbeiten. Solche Momente werden dann als Zeitpunkte erhöhter Aufmerksamkeit interpretiert. Wir haben aber herausgefunden, dass der ISC-Wert nur dann aussagekräftig ist, wenn es nur eine einzige Option dafür gibt, was als aufmerksames Verhalten interpretiert werden kann. Im Gegensatz dazu kann unser GCM-Maß auch dann Aufmerksamkeit erkennen, wenn sie sich auf verschiedene Aspekte einer Szene verteilt. 

Wozu können diese Mess-Ergebnisse dienen? Sprich: Wie könnte man anhand der Befunde die Lern-Videos verbessern?

Die Gründe, warum manche Videos Lerninhalte besser oder schlechter vermitteln, sind vielfältig. Und für die Frage, ob Lernende beim Betrachten eines Videos ganz allgemein gedanklich abschweifen, braucht man auch keine Augenbewegungsmessung. Der große Vorteil von GCM liegt darin, dass man damit den Zeitpunkt besser bestimmen kann, wann Personen beim Betrachten eines Videos unaufmerksam werden und welche es sind. Somit lässt sich wesentlich gezielter überprüfen, was zum Aufmerksamkeitsabbruch geführt haben könnte. Wurde zum Beispiel zu viel Vorwissen erwartet? Wäre es an der Zeit gewesen, den bisher behandelten Stoff noch einmal zusammenzufassen und einzuordnen, bevor es weitergeht? Könnte ein Beispiel für ein besseres Verständnis sorgen? Das sind Fragen, die sich mit unserer Methode besser beantworten lassen. Dementsprechend können Videos dann angepasst werden.

Porträtfoto: Sebastian KorinthDr. Sebastian Korinth ist promovierter Psychologe. Am DIPF gehört er zum Team, das die Labore des Forschungszentrums „IDeA“ (Individual Development and Adaptive Education of Children at Risk) betreut. Die Labore unterstützen die Forschende mit Testequipment, Räumlichkeiten und Expertise bei verhaltensbasierten und neurowissenschaftlichen Studien.
Nähere Informationen über die Studie von Natalie John, Dr. Sebastian Korinth,  Prof. Dr. Mareike Kunter und Dr. Franziska Baier-Mosch und ihre neue Messmethode bietet ein frei verfügbarer wissenschaftliche Artikel in der Fachzeitschrift „Scientific Reports“.
Die Arbeit ist Teil des Projekts „EiKlar – EEG im Klassenzimmer“, das Lernprozesse mithilfe neurophysiologischer Messungen untersucht.