„Ein Bildungsminimum für alle Kinder und Jugendlichen muss garantiert werden“

Die Bildungsungleichheit in Deutschland ist eines der am hitzigsten diskutierten Bildungsthemen. Was ist damit genau gemeint?
Unter Bildungsungleichheit versteht man die Kopplung von Merkmalen der sozialen Herkunft mit Indikatoren des Bildungserfolgs. Dazu zählen zum Beispiel das Bildungsniveau und der sozio-ökonomische Status der Eltern auf der einen Seite, die erreichten Kompetenzen und die erreichten Schulabschlüsse der Kinder auf der anderen Seite. Aber Bildungsungleichheiten beziehen sich auch auf sozio-emotionale Aspekte. Zusammengefasst geht es um den Einfluss der sozialen Herkunft eines Kindes auf Merkmale (1) der Bildungsbeteiligung und des Zertifikaterwerbs, (2) der Persönlichkeitsentwicklung, etwa die sozio-emotionale Entwicklung oder die Resilienz, und (3) des Kompetenzerwerbs im Sinne von Zuwächsen von Wissen und Fähigkeiten im kognitiven und im nicht kognitiven Bereich.
Solche Effekte sehen wir auf vielfältige Weise, und die Bedeutung des sozialen Hintergrunds für Bildungskarrieren lässt sich bis ins Erwachsenenalter empirisch umfassend nachzeichnen.
Beginnen wir einmal beim unmittelbaren Umfeld der Kinder, bei der Familie. Wie wirken sich soziale Unterschiede auf die Bildung und die Bildungswege der Kinder aus?
Hier sprechen wir zunächst von den primären Effekten: Wenn Kinder in der Familie viele Erfahrungs- und Lernmöglichkeiten erhalten, also wenn etwa Eltern ihren Kindern regelmäßig vorlesen, mit ihnen ins Museum oder in Konzerte gehen und wenn die Kinder lernen, dass Eltern selbst Zeit mit Lesen und kreativen oder handwerklichen Tätigkeiten verbringen, dann wirkt sich das positiv auf das Lernen und die Kompetenzen aus. Aber je nach sozialer Herkunft und aus sehr verschiedenen Gründen passiert dies nicht in allen Familien – mit negativen Auswirkungen auf die sprachliche Entwicklung, um nur ein Beispiel zu nennen.
Von sekundären Effekten sprechen wir, wenn Familien Bildungsentscheidungen für die Kinder treffen, ohne deren Leistungsfähigkeit angemessen zu berücksichtigen. Hier wird in den Familien oft abgewogen, welcher Bildungsweg den höchstmöglichen Nutzen bringt und zugleich realistisch und finanzierbar ist. Diese Abwägung variiert bei den Eltern je nach sozialer Herkunft.
So schätzen etwa Akademiker*innen den Nutzen von Bildung sehr hoch ein, messen den Kosten eine geringere Bedeutung bei und gehen davon aus, dass ihre Kinder den gewählten Bildungsgang erfolgreich abschließen. Bei Familien aus sozial weniger privilegierten Verhältnissen werden die Kosten als sehr hoch und der Nutzen hingegen eher gering eingeschätzt. Dies kann beispielsweise dazu führen, dass zwei Kinder mit den gleichen schulischen Leistungen am Ende der Grundschule unterschiedliche Bildungswege einschlagen.
Das heißt, in diesem Fall geht es insbesondere um die angestrebten beziehungsweise nicht angestrebten Schulabschlüsse?
Nicht nur. Entscheidungseffekte lassen sich auch für nicht schulrelevante Bereiche identifizieren. Wir sehen, dass bereits im Vorschulalter Kinder aus sozial weniger privilegierten Familien nicht nur seltener eine Musikschule besuchen oder an der musikalischen Früherziehung teilnehmen, sondern auch substanziell weniger in Sportvereinen oder Sportgruppen aktiv sind. Dieser Befund ist mir im Rahmen der Bildungsberichterstattung erstmals aufgefallen und hat mich gelinde gesagt schockiert. Effekte beim Besuch der Musikschule, von frühen Sprachkursen oder Ähnlichem waren für mich erwartbar, Sport sollte aber so niederschwellig sein, dass alle Kinder gleichermaßen daran teilhaben und somit von ihm profitieren können.
Jetzt haben Sie ja sehr konkret die Rolle der Familien thematisiert, aber welche Rolle spielen denn die Schule und das soziale Umfeld bei den sozialen Ungleichheiten?
Deren Einfluss ist ebenfalls nicht zu unterschätzen, und wir sprechen hier von den tertiären und quartären Effekten sozialer Ungleichheit. Die tertiären Effekte betreffen das Bewertungsverhalten von Lehrkräften. Kurz gesagt, Kinder aus privilegierten Familien werden oft positiver eingeschätzt als Kinder aus benachteiligten Familien. Sie gelten als klüger, motivierter, aber auch sozial kompetenter und erhalten die besseren Noten.
Und schließlich gibt es noch den quartären Effekt, den wir beispielsweise auch im Startchancen-Programm adressieren. Hier geht es um die unterschiedlichen Lern- und Entwicklungsmilieus von Schulen in privilegierten und in sozial benachteiligten Lagen. Schulen in Kommunen mit einer hohen Arbeitslosigkeit und in sozialen Brennpunkten stehen vor anderen Herausforderungen als Schulen in wirtschaftlich starken Regionen und können Kinder oft nicht in gleichem Maße fördern.
Das sind sehr unerfreuliche Befunde, so ganz neu sind sie aber auch nicht. Wie lange befassen wir uns denn schon mit dem Thema Bildungsungleichheit in Deutschland?
Das Thema beschäftigt uns seit der Gründung der BRD. Erstmals größere Aufmerksamkeit hat es durch die von Georg Picht 1964 beschriebene Bildungskatastrophe erhalten, wenngleich es hier weniger um die sozialen Ungleichheiten ging als um die Sorge, nicht genügend gut qualifiziertes Personal für die wirtschaftliche Entwicklung zu gewinnen. Mit Blick auf den gegenwärtigen Leistungsstand unsers Bildungssystems könnte Pichts Argumentation aber nicht aktueller sein. Denn ihm zufolge war das Kapital der wirtschaftlichen und politischen Führungsschicht der Zeit des Wirtschaftswunders, die ihre geistige Formung noch den Schulen und Universitäten der Weimarer Republik erhalten hatte, aufgebraucht. In ähnlicher Form könnte man das auch heute konstatieren. Auf jeden Fall führte die unzureichende Qualität des Bildungssystems zu Pichts Zeiten unter anderem dazu, dass sich Deutschland am unteren Ende der vergleichenden Schulstatistik wiederfand. Spätestens mit Ralf Dahrendorfs „Bildung ist Bürgerrecht“ im Jahr 1965 war das Thema der sozialen Ungleichheiten beim Erreichen akademischer Abschlüsse dann prominent benannt. Dennoch erfolgte zunächst keine kontinuierliche Auseinandersetzung damit. Stattdessen lassen sich durch die Jahrzehnte hindurch intensivere und weniger intensive Phasen beschreiben.
Mit den Ergebnissen der ersten PISA-Studie im Jahr 2000 war das Thema schließlich wieder hochaktuell und hat seitdem weder an inhaltlicher Bedeutung noch an öffentlicher Aufmerksamkeit verloren. Das sehen wir auch in den 20 Jahren nationaler Bildungsberichterstattung, auf die wir mittlerweile blicken. In jedem der mittlerweile vorliegenden 10 Berichte werden Bildungsungleichheiten nicht nur beschrieben und angemahnt, sondern durchweg als Herausforderung thematisiert.
Dramatisch ist dabei nicht nur die sozial bedingte Ungleichheit an sich. Wir haben uns anscheinend auch daran gewöhnt, dass wir in all den Jahrzehnten keine wirksamen Wege gefunden haben, um sie zu reduzieren. Als jemand, der seit einem Viertel Jahrhundert zu Bildungsungleichheiten arbeitet, macht mich diese Perspektive nahezu wahnsinnig und man hinterfragt die eigene Arbeit. Es ist klar, dass die Vorstellung, diese Ungleichheiten völlig abzubauen, utopisch wäre. Aber es muss einfach möglich sein, den Effekt substanziell zu reduzieren, das zeigt auch der Blick ins Internationale. Und auch hier setze ich große Hoffnungen in das Startchancen-Programm. Nicht weil es das vermeintlich größte bisherige Bildungsprogramm ist, sondern weil es systemisch angelegt ist, die Möglichkeiten des Systems nutzbar macht und weiterentwickelt und zugleich einen kritischen Blick auf das eigene Steuerungshandeln in den 16 Bildungsadministrationen zulässt. Es hat das Potenzial, zum Motor für eine nachhaltig angelegte Professionalisierung des gesamten Systems zu werden. Denn neben der Lehrkräftequalifikation geht es wirklich um alle Beteiligten – in der Schule, in den Ministerien, in den Schulaufsichten und in den Schulbegleitungen.
Zur Entwicklung des Themas Bildungsungleichheit in Deutschland haben Tilman Drope, Sabine Reh und Sie ja gerade einen neuen Sammelband herausgegeben. Was thematisiert er?
Uns geht es dabei um die verschiedenen theoretischen und methodologischen Zugänge zur Erforschung von Bildungsungleichheit, letztlich aber mit dem Ziel, Impulse für Politik, Praxis und Forschung zu bieten. Wir befassen uns mit den verschiedenen normativen Grundannahmen und Dimensionen von Bildungsgerechtigkeit sowie mit den historischen Entwicklungen im Spannungsfeld von Kontinuität und Wandel. Zugleich thematisieren wir, wie wir mit Bildungsforschung systemische und individuelle Merkmale untersuchen und dazu beitragen können, das Entstehen und Verfestigen von Bildungsungleichheit zu verhindern oder zumindest abzumildern. Einen besonderen Blick werfen wir dabei auf die bereits jetzt zur Verfügung stehenden Studien wie das Nationale Bildungspanel (NEPS), mit denen sich die großen systemischen wie auch die kleinen individuellen Zusammenhänge beschreiben und über die Jahre verfolgen lassen. Und abschließend lassen wir Erfahrungen aus Schulentwicklungsprojekten einfließen, in denen Forschung und Praxis zusammengearbeitet haben, um vor Ort und im Sozialraum die bestehenden Bildungsungleichheiten zu reduzieren – und sich damit auch der Bildungsgerechtigkeit ein Stück weit anzunähern.
Das müssten sie vielleicht etwas konkretisieren: Wie könnte denn eine bildungsgerechte Gesellschaft aussehen?
Das ist in der Tat eine wichtige Frage, denn wir führen gar keinen Diskurs darüber, was wir unter Bildungsgerechtigkeit verstehen. Gemeinhin wird damit die Verringerung des Leistungsabstandes zwischen Kindern aus verschiedenen Herkunftsgruppen gemeint. Das ist auf den ersten Blick einleuchtend, aber trügerisch. Denn eine Verringerung des Abstandes wird nicht nur erreicht, wenn Kinder aus sozial schwächeren Familien besser werden, sondern auch, wenn die aus den privilegierten Familien schlechter werden. Das kann nicht gewollt sein. Ich würde daher eine andere Definition heranziehen. Allen Kindern und Jugendlichen muss ein Bildungsminimum garantiert werden, als eine Verpflichtung, auf die wir uns verständigen. Das setzt auch voraus, dass wir definieren, was das Bildungsminimum ist.
2021 hat das Bundesverfassungsgericht ein Grundrecht auf schulische Bildung beschlossen, in dem es dem Bildungssystem eine „Gewährleistungspflicht“ für „unverzichtbare Mindeststandards“ auferlegt. Was das genau heißt, bleibt offen, aber die Aufgabe ist dennoch von höchstrichterlicher Ebene definiert. Nun müssen wir sie auch angehen. Gleichzeitig muss es aber den Anspruch geben, dass jedes Kind sein Bildungsoptimum erreichen kann. Wenn das Bildungsminimum gesichert ist, dann wäre es auch aus gerechtigkeitstheoretischer Sicht akzeptabel, wenn einige durch bestmögliche Förderung in der Schule und durch exzellente Möglichkeiten außerhalb der Schule mehr dazulernen als andere, dies jedoch unabhängig von ihrer Herkunftsgruppe.
Die Realität sieht allerdings anders aus: Gegenwärtig erreichen je nach Fach und Bundesland ein Viertel bis ein Drittel der Schüler*innen nicht die Mindeststandards. Solange wir diesen Anteil nicht substanziell abbauen, sind wir weit entfernt von Bildungsgerechtigkeit. Gleichzeitig tun wir gut daran, uns nicht nur auf den unteren Bildungsbereich zu fokussieren, sondern das gesamte Leistungsspektrum in den Blick zu nehmen, da wir auch eine größere Gruppe der Leistungsstarken brauchen. Eine mehr auf Potenzialentwicklung ausgerichtete Bildungspolitik und -praxis wäre hier hilfreich.
Was muss sich dafür an den Schulen, im Bildungssystem allgemein ändern?
Auf jeden Fall sollten wir über die gegenwärtige Lern- und Prüfungskultur nachdenken, denn diese entspricht nicht mehr den Anforderungen und Bedingungen der Gegenwart. Wir müssen Schule als lernende Institution verstehen und die Entwicklungsprozesse als etwas, das sich erst in der Zukunft auszahlen wird, dessen Entstehungszusammenhänge und -begründungen aber in der Vergangenheit liegen. Schulentwicklung ist also keine einmal initiierte Veränderung, sondern ein sich stetig verändernder Prozess, der das System permanent in Bewegung hält. Und dazu gehört, die Bewegung auch zuzulassen und diese Veränderung nicht als etwas Schlimmes abzutun. Das kann auch mal schmerzhaft sein, aber nur wenn wir uns der Veränderung stellen, haben wir überhaupt eine realistische Chance, sie zu gestalten. Denn Veränderung wird ohnehin stattfinden, auch wenn wir sie nicht wollen oder nicht dafür bereit sind. Das aber wäre die Aufgabe von Kontrolle und Steuerung des Systems.
Gerade haben 23 Bildungsstiftungen ein Policy-Paper mit sehr klaren Forderungen für mehr Bildungsgerechtigkeit herausgegeben. Sie haben das Papier als einer von mehreren wissenschaftlichen Expert*innen begleitet. Wo gilt es demnach anzusetzen?
Die Initiative BildungsgeRECHTigkeit schlägt vier Bausteine für die Gestaltung eines gerechten und zeitgemäßen Bildungssystems vor:
- Mit einem gemeinsamen Zielbild entwickeln Bildungsakteur*innen eine gemeinsame, datengestützte Bildungsstrategie, die sich auf die Kinder fokussiert und deren Entwicklung von 0 bis 18 Jahren mit ganzheitlichen Indikatoren verfolgt.
- Mit mehr Verbindlichkeit, einer regelmäßigen Beobachtung und Diagnostik sowie Lernstandserhebungen wird eine individualisierte Förderung und datenbasierte Steuerung ermöglicht.
- Bildungssteuerung muss sowohl die vertikale Abstimmung zwischen Kommune, Land und Bund als auch die horizontale, nahe am Kind erfolgende Zusammenarbeit von Schule, Betreuung und Sozialraum umfassen.
- Mit gebündelten Ressourcen sollen rechtskreisübergreifend Ressourcen zusammengefasst werden und Bildungseinrichtungen eine größere Autonomie erhalten, um entsprechend den konkreten Bedarfen der Kinder ihr Vorgehen zu bestimmen.
Ich würde noch zwei Punkte konkretisieren, und zwar die Steuerung und die systemische Ganzheitlichkeit. (1) Wir brauchen eine Steuerung, die kohärent und vernetzt, von den Bedarfen und Potenzialen der Akteur*innen im System auf ein geteiltes Ziel hinarbeitet. Dabei muss sie sich immer wieder selbst infrage stellen und weiterentwickeln. Um die vielfältige Expertise in der Praxis nutzbar zu machen, sind zudem Brückeninstitutionen erforderlich. Sie müssen die Angebote der Wissenschaft mit den Gesetzesgrundlagen der Politik, den Umsetzungslogiken der Verwaltung und den Bedarfen der schulischen Praxis im Sinne einer kohärenten Schulentwicklung synthetisieren und synchronisieren. (2) Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Einzelteile. Das klingt zwar plakativ, ist aber deshalb nicht weniger wichtig und richtig. Wir denken Schule in vielen Punkten zu parzelliert, ja vielleicht sogar im ungünstigsten Fall atomisiert. Wenn wir Unterricht entwickeln wollen, dürfen wir nicht nur auf den Unterricht schauen, sondern müssen den gesamten Kosmos schulischer Aktivtäten, Prozesse und Verantwortlichkeiten in den Blick nehmen. Erst dann wird es uns gelingen, Kinder und Jugendliche in ihrer Komplexität und Heterogenität zu erreichen und für sie agile und doch nachhaltige Angebote zu entwickeln und vorzuhalten.
Pressemitteilung zu Sammelband
Policy Paper